Mitarbeiter_innen haben ab einer jährlichen Arbeitsunfähigkeit von sechs Wochen, Anspruch auf das sogenannte Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) durch den Arbeitgeber. Der Gesetzgeber will damit unter anderem vermeiden, dass Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen den Kontakt zum Arbeitsleben verlieren. Arbeit dient neben der Existenzsicherung, auch der Sinnstiftung und Teilhabe am sozialen Leben. Dies muss auch möglich sein, wenn es zu gesundheitlichen Einschränkungen kommt - das gilt sowohl für körperliche, als auch für psychische Probleme. Der geflügelte, systemische Satz "Alles hängt mit allem zusammen" hilft uns hier weiter: Gesundheitliche Probleme können durch Arbeit entstehen oder verstärkt werden, sie können aber auch durch Arbeit gemildert werden und Teil des Heilungsprozesses sein. Zum Beispiel bietet ein sicherer Arbeitsplatz oft Stabilität und Tagesstruktur, die helfen kann. Im Zentrum steht für mich im BEM die Frage, wie kann die individuelle Arbeit so gestaltet werden, dass sie gesundheitsförderlich ist?
Schnelle Lösungen im BEM?
Menschen nehmen das BEM zum Beispiel in Anspruch, wenn sie aufgrund von körperlichen Erkrankungen Ausfallzeiten haben. Dazu ein praktisches Beispiel: Eine Mitarbeiterin wollte nach überstandener Krebserkrankung ein BEM und wurde zu einem Gespräch in das zuständige, vierköpfige Integrationsteam eingeladen. Nachdem diese von der überstandenen Erkrankungen und der positiven Prognose hörten, schlug das Team eine langsame, stufenweise Wiedereingliederung vor, um die Arbeitsfähigkeit zu testen und die Leistungsfähigkeit Stück für Stück zu steigern. Die Mitarbeiterin erklärte sich zunächst einverstanden, widerrief aber dann wenige Tage danach ihre Zustimmung. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz verzögerte sich, obwohl die Mitarbeiterin sich körperlich in der Lage sah. Was war passiert? Die Mitarbeiterin hatte von Beginn an große Sorge, dass die Kolleg_innen bei ihrer Rückkehr aufgrund der lebensbedrohlichen Erkrankung reserviert und unsicher reagieren würden. Im BEM-Gespräch wurde die Wiedereingliederung so schnell vorgeschlagen, dass sie ihre Sorge nicht benannte. Hinzu kam, dass die Führungskraft nicht beteiligt wurde, sondern lediglich die Information zur Wiedereingliederung mitgeteilt bekam. Sie reagierte der Mitarbeiterin gegenüber überrascht, so dass diese sich in ihren Befürchtungen bestätigt sah und sich zunächst nicht in der Lage fühlte, an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Das BEM drohte zu scheitern.
Ein ähnliches Vorgehen begegnet mir hin und wieder in der Praxis. Die fallführenden BEMler_innen (Integrationsteam, BEM-Berater_innen, manchmal auch Führungskräfte) wollen wirklich hilfreich sein und entwickeln tolle Ideen und sehr schnell Lösungen - doch leider passen die nicht automatisch zum Anliegen der/ des Mitarbeiter_in und beteiligen auch nicht die "Betroffenen."
Insbesondere die psychische Verfassung nimmt eine große Rolle in den BEM-Fällen ein. Sowohl als sogenannte Hauptdiagnose, als auch als begleitendes Thema bei körperlichen Erkrankungen. Dazu kommen zwischenmenschliche Belastungen in Teams oder zwischen Hierarchien, die auch zu Ausfallzeiten führen können, beziehungsweise die Rückkehr an den Arbeitsplatz erschweren. Schnell erarbeitete Maßnahmen, wie den höher verstellbaren Tisch, die stufenweise Wiedereingliederung oder eine Teilerwerbsminderungsrente, greifen hier eventuell daneben. Was tun?
Systemisches Arbeiten im BEM
Eine systemische Herangehensweise kann dem gegenüber zu guten Erfolgen führen - im Sinne der Mitarbeiter_innen, aber auch im Sinne des Unternehmens. Es ist hilfreich, das BEM als Instrument zu begreifen, in dem Ressourcen erkundet und genutzt und in einem kreativen Prozess, Lösungen entwickelt werden. Systemisch Arbeiten heisst dann, Ideen und Ressourcen aller Beteiligten auszuloten - die der Mitarbeiter_innen und die des Unternehmens. Im Fokus steht nicht "was nicht geht", sondern "was geht."
Systemisch gedacht, steht das Individuum nicht alleine, sondern das BEM betrifft mehrere Akteure. Eine stufenweise Wiedereingliederung betrifft zum Beispiel auch die Führungskraft, die diese planen und begleiten muss. Ähnliches gilt für Anpassungen bei der Arbeitszeit oder im Arbeitsablauf.
Dazu ein Beispiel, wie es systemisch funktionieren kann. Eine Mitarbeiterin aus einer Krippe fiel aufgrund von Rückenproblemen immer wieder aus. Im BEM-Gespräch mit der BEM-Beraterin führte sie ihre Probleme auf die Belastungen beim Heben der Kinder, dem Wickeln und dem "Arbeiten auf Augenhöhe mit den Kleinkindern" zurück. Die Mitarbeiterin konnte sich rückenschonendes Arbeiten im Arbeitsalltag nicht vorstellen und sah zunächst als einzigen Weg den Job zu wechseln. Um in Bezug auf den Arbeitsalltag doch noch Möglichkeiten auszuloten, wurde die Leitungskraft mit eingebunden. Diese wandte zu Recht ein, dass das Weglassen bestimmter Tätigkeiten durch die betroffenen Mitarbeiterin zu Lasten des Teams gehe. Jetzt wurde deutlich, dass auch andere Kolleg_innen Rückenprobleme (noch nicht so ausgeprägt) hatten. Die Leitung hatte bereits die Sorge, dass es deshalb zu Personalproblemen kommen könnte.
Auf die systemisch gestellte
Frage "Stellt Euch vor, in einem halben Jahr habt ihr die Rückenprobleme im Griff? Was müsste dann passieren?" kam unter anderem die Antwort: "Dann wüssten wir, wie wir uns alle rückenschonend und trotzdem im Sinne der Kinder verhalten können?"
Die Erkundung der Ressourcen zeigte, dass in relativer Nähe, eine Physiotherapiepraxis spezielle Schulungen und Trainings On the Job zu diesem Thema vornahm, die zudem auch noch öffentlich gefördert wurden. Mit einem Mal war eine Lösung entwickelt, die nicht nur der betroffenen Mitarbeiterin zugute kam, sondern von der das gesamt Team profitierte. Einige Hilfsmittel wurden zudem angeschafft und die Situation verbesserte sich durch die Maßnahmen insgesamt.
Oft geht viel mehr, als zunächst gedacht. Manchmal reichen kleine Veränderungen. Systemische, zukunftsgerichtete Fragetechniken sind an dieser Stelle sehr hilfreich. Dadurch können überraschende Lösungen entstehen, die helfen Mitarbeiter_innen zu halten und Belastungen für Teams und Unternehmen zu reduzieren. Ein systemisch ausgerichtetes BEM, mit wertschätzender Gesprächsführung zwischen allen Beteiligten, kann Einfluss auf das gesamte Unternehmen haben. Sie kann Teil einer positiven, gesundheitsfördernden Firmenkultur sein, die gerade in Zeit des Fachkräftemangels wertvoll ist.
Es geht im BEM nicht darum, Angebote im Sinne eines Blumenstraußes zu machen, aus denen ausgewählt werden kann. Diese Idee entsteht manchmal, wenn Mitarbeiter_innen lediglich als "Empfangende" begriffen werden oder sich selbst als solche verstehen. Systemische Gesprächsführung demgegenüber macht gerade die Mitarbeiter_innen zu Akteur_innen, denn mit einer systemischen Haltung begreifen wir sie als Expert_innen für ihre Situation. Passgenaue Lösungen können gemeinsam erarbeitet werden, wenn sich Mitarbeiter_innen, Führungskräfte und andere Beteiligte als Gestalter_innen einbringen. Und dies funktioniert am ehesten, wenn die BEM-Berater_innen eine fragende, verstehende Haltung einnehmen, den Prozess steuern - aber nicht für die Lösungen verantwortlich sind. Die Erarbeitung von Lösungen mit den beteiligten Akteur_innen, braucht oft etwas mehr Zeit, sorgfältiges Fragen und eine Annäherung im gegenseitigen Verstehen. Hilfreich ist auch das Wohlwollen und Veränderungs-bereitschaft, bisher Ungedachtes zu probieren. Doch so entstehen nachhaltige Lösungen, die von allen mitgetragen werden können.
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